Bittere Insel: Erkundung portugiesischer Koloniallandschaften im Zuckerplantagenzyklus von São Tomé (16.-17. Jahrhundert)
Praia Melão (São Tomé) 16.07. – 25.08.2023
M. Dores Cruz
(Email: mdores.cruz@uni-koeln.de)
Im Schatten des dichten Tropenwaldes arbeiten Universitätsstudenten und Mitglieder des Projektteams an verschiedenen Aufgaben – einige arbeiten in Testgrabungen andere machen sich Notizen, andere zeichnen stratigrafische Profile, und wieder andere bedienen Rüttelsiebe, um Artefakte aus den Testschnitten zu sammeln, die in dem Gebiet innerhalb und um die hoch aufragenden Steinruinen herum gegraben werden. Es handelt sich um Praia Melão, die Überreste einer Zuckerplantage, deren ruinöses, wasserbetriebenes Mühlen- und Wohnhausgebäude vom Leben der versklavten Arbeiter zeugt, die vor rund 500 Jahren nach São Tomé gebracht wurden. Eine Studentin tritt mit ausgestreckter Hand von einem Sieb weg: „Schau mal.“ In ihrer Handfläche liegt eine strahlend weiße Kaurimuschel.
Im 16. Jahrhundert wurde eine kleine Insel im Golf von Guinea zum Schauplatz einer bahnbrechenden Innovation mit verheerenden Auswirkungen auf Generationen von gefangenen Afrikanern und deren Nachkommen, auf die Geschichte des Plantagenkapitalismus und auf die strukturellen Ungleichheiten der modernen Welt. Koloniale Unternehmer aus Portugal und anderen europäischen Ländern entwickelten eine Methode zur Zuckerproduktion, bei der sie die natürliche Fruchtbarkeit und das günstige Klima von São Tomé mit der Zwangsarbeit von Afrikanern vom Festland kombinierten, die auf die neu errichteten Plantagen gebracht wurden. Das auf der Arbeit von versklavten Afrikanern basierende Wirtschaftsmodell der Plantagen wurde in São Tomé erfunden und dann in die gesamte koloniale Welt exportiert. In den folgenden Jahrhunderten wurde São Tomé zu einem Knotenpunkt zwischen Europa, Afrika und Amerika und spielte eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des kapitalistischen Plantagensystems, der transnationalen Handelsnetze, der auf Zwangsmigration basierenden Arbeitsmodelle und der Errichtung kolonialer Imperien, kurz gesagt, der modernen atlantischen Welt. Das Fehlen archäologischer Forschungen und die Ausklammerung von São Tomé aus dem öffentlichkeitswirksamen historischen Diskurs haben jedoch dazu geführt, dass die Bedeutung der Insel für die Weltgeschichte weitgehend unbekannt geblieben ist. Internatuinal hat sich bislang niemand für die Kulturlandschaften und die Hinterlassenschaften jener Menschen interessiert, die vor 500 Jahren gegen ihren Willen auf den Zuckerplantagen von São Tomé schufteten.
Das Projekt in Praia Melão ist die erste archäologische Untersuchung in São Tomé. Es handelt sich um ein internationales Gemeinschaftsprojekt, an dem Forschende unterschiedlicher Fachrichtungen und Herkunft beteiligt sind: M. Dores Cruz (PI / Principal Investigator, Universität Köln), Nazaré Ceita und Natália Umbelina (Universität São Tomé e Príncipe), Larissa Thomas (Environmental Resources Management), Nadine Nolde (Universität Köln) und Álvaro Castilla Beltrán (Universität La Laguna). Sie wollen die Insel in die Diskussionen über die Entstehung der modernen atlantischen Welt, die Archäologie der Plantagen und koloniale Identitäten einbringen. Die Arbeit trägt zum vergleichenden Wissensstand über die Plantagensklaverei bei, indem sie sich auf die vielleicht früheste bekannte Stätte dieser Art konzentriert. Die Forschung zeigt, wie sich Aspekte des Plantagensystems auf dieser Insel entwickelt haben und wie sich die Beobachtungen von São Tomé in das Gesamtbild des aufkommenden Kolonialismus in Afrika einfügen. Die archäologische Forschung in Praia Melão fördert Hinweise auf eine kritische Periode zutage, welche die globalen wirtschaftlichen und kulturellen Strömungen grundlegend veränderte und den Platz einer kleinen Insel am Drehpunkt der Geschichte beleuchtet. Die Engenho in Praia Melão war die größte Zuckermühle und -siedlung auf São Tomé, die zeitweise zwischen 200 und 300 versklavte Arbeiter beschäftigt haben soll. Sie wurde im 16. Jahrhundert errichtet und blieb bis ins 19. Jahrhundert in Betrieb, wobei sie ab Mitte des 17. Jahrhunderts auf die Produktion von Alkohol und Casavamehl umgerüstet wurde.
Die Stätte ist Gegenstand archäologischer Untersuchungen und Ausgrabungen in den Jahren 2022 und 2023, die die fast vergessene Geschichte der Ursprünge der Plantagensklaverei aufzudecken beginnen. Praia Melão dokumentiert den Alltag der versklavten Afrikaner, die Zucker für den europäischen Markt produzierten, und die Geschichte des Ortes ist auch ein Vorgeschmack auf Themen wie lokaler Widerstand, einschließlich bewaffneter Aufstände und der Gründung von Maroon-Gemeinschaften im zerklüfteten Inneren der Insel, und Kreolisierung, ein dynamischer Prozess, der eine einzigartige Gesellschaft und Identität auf São Tomé hervorbrachte. Obwohl Praia Melão ein Ort von internationaler historischer Bedeutung ist, ist er selbst in São Tomé nur wenig bekannt und weitgehend ungeschützt. Eine Ausweitung der Forschung in Praia Melão ist besonders dringlich, da die Stätte aus seltenen, vom Einsturz bedrohten Ruinen einer Architektur aus dem 16 Jahrhundert besteht.
Ergebnisse und zukünftige Forschung
Bei der Sondierungsgrabung im Jahr 2023 wurden Ablagerungen an der Außenseite und im Inneren des engenho freigelegt, die Hinweise auf die Aktivitäten der Zuckerproduktion, die Bauweise der Anlage und die spätere Wiederverwendung des Geländes nach dem Rückgang der Zuckerproduktion und der endgültigen Aufgabe des Gebäudes lieferten. Die Ausgrabungen erbrachten eine Vielzahl von Artefakten, wobei ein hoher Prozentsatz von Dachziegeln (105 kg, die hauptsächlich in den beiden oberen Ausgrabungsebenen gefunden wurden und vom Verfall und teilweisen Einsturz des Gebäudes herrühren) und Fragmente von Zuckerformen gefunden wurden, die von der an diesem Ort stattfindenden Produktion zeugen. Neben der portugiesischen Haushaltskeramik wurde eine kleine Anzahl von Artefakten gefunden, die möglicherweise afrikanischen Ursprungs sind, darunter die Kaurimuschel, Keramikfragmente, die kontinentaler Keramik ähneln, und ein Fragment eines fein verzierten Pfeifenstiels. Die Objekte, die vom Festland an den Fundort gebracht oder in Stilen hergestellt wurden, die kontinentalen Traditionen entsprechen, sind von besonderem Interesse, da sie einen Einblick in das Fortbestehen der Kultur von Menschen geben, die zu Beginn der afrikanischen Diaspora vertrieben wurden.
Die Analyse von Artefakten, tierischen Überresten und Böden ist im Gange und bietet die Möglichkeit, Aspekte des täglichen Lebens - insbesondere die Ernährungsgewohnheiten - der Menschen, die auf Praia Melão arbeiteten, sowie Umweltveränderungen infolge des menschlichen Einflusses auf die bis zur Ankunft der Portugiesen in den frühen 1470er Jahren unbewohnte Insel aufzudecken. Die Kolonisierung brachte die Einführung neuer Arten und eine intensive Monokultur mit sich, die unauslöschliche Spuren in der Landschaft hinterließen und in den Pollen und Phytolithen abgebildet sind, welche in der tiefen Stratigraphie von Praia Melão erhalten sind.
Künftige Ausgrabungen in Praia Melão werden unser Verständnis des täglichen Lebens und der materiellen Bedingungen innerhalb des sozioökonomischen Komplexes des Zuckers erweitern. Wichtig ist, dass das Projekt eine praktische archäologische Ausbildung für são-toméische Universitätsstudierende und jene beinhaltet die sich für das Kulturerbe einsetzen, und sich in die gemeinschaftliche Forschung, das Engagement und die Beteiligung der lokalen Gemeinschaft einbringt und damit zu einer dekolonisierten archäologischen Praxis beiträgt. Ein zentrales Ziel dieser Forschung ist es, São Tomé den ihm gebührenden Platz in der Geschichtsschreibung zurückzugeben und Afrika und Afrikaner in den Mittelpunkt der Ursprünge der Moderne zu stellen.
Die Zukunft der Archäologie in São Tomé und der Stätte
Im Sommer 2023 nahmen vier Studierende der Universität von São Tomé und Príncipe und drei Mitglieder der örtlichen Gemeinde an der archäologischen Feldschule teil. Zwei der Studierenden und der Verbindungsmann der örtlichen Gemeinde setzten ihre Ausbildung im Februar und März 2024 fort, wobei ein Student im ersten Studienjahr ebenfalls zum Team stieß und an der Analyse der Artefakte von Praia Melão teilnahm. Darüber hinaus sammelte die Projektleiterin mündliche Überlieferungen, die eine lokale Tradition der Keramikherstellung in einem Dorf im Westen der Insel ans Licht brachten, das einzige dokumentierte Beispiel einer lokalen Keramikherstellung in der Neuzeit. Im Anschluss an diese Entdeckung initiierten die Projektleiterin und die Studiernden ethnoarchäologische Untersuchungen in dem Dorf, deren Ergebnisse Einblicke in die Kontinuität und den Wandel der Keramikproduktion von der Zeit der Gründung von Praia Melão bis zur Gegenwart geben könnten.
Im Rahmen unserer Bemühungen, die frühe Geschichte von São Tomé sowohl innerhalb des Landes als auch international bekannt zu machen, haben wir eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Informationsmaterialien erstellt:
- eine Broschüre (in portugiesischer Sprache), die vor Ort, insbesondere in den Nachbargemeinden und bei lokalen Politikern, verteilt wird
- ein kurzes Video, das auf YouTube verfügbar ist und Untertitel auf Englisch und Deutsch enthält (siehe Medien )
- ein in SAPIENS veröffentlichter Artikel (siehe weiterführende Literaur )
- und schließlich wurde das Projekt in einer Reihe von internationalen Medienplattformen vorgestellt
Unser Ziel ist es, die Santoméaner über eine weniger bekannte Periode ihrer Geschichte zu informieren und gleichzeitig die Stätte Praia Melão zu schützen. Ein wichtiger Teil dieser Bemühungen bestand darin, dass die Projektleiterin und zwei Partner aus Santomea (Prof. Nazaré Ceita und Prof. Natália Umbelina) sich dafür einsetzten die Stätte als Denkmal von nationalem Interesse eintragen zu lassen.
Treffen mit dem Kulturminister im Jahr 2023 und mit dem Premierminister Anfang 2024 trugen Früchte: Ende 2024 wurde Praia Melão offiziell als nationales historisches Denkmal ausgewiesen. Der Erhalt der Stätte eröffnet internationale Finanzierungsmöglichkeiten und kann langfristig zu nachhaltigen Tourismusprojekten beitragen, die die wirtschaftliche Entwicklung in der Nachbargemeinde fördern würden.
Fazit
Nach dem Niedergang der Zuckerproduktion im 17. Jahrhundert überlebten die Mühle und das Gutshaus in Praia Melão dank veränderter Produktionsstrategien etwa 400 Jahre lang. Ihr Erhalt ist möglicherweise auch der Tatsache zu verdanken, dass die in der Nähe lebende Bevölkerung durch Geistergeschichten eingeschüchtert ist; selbst Kinder meiden den Ort. Obwohl die Stätte an einem viel begangenen Wanderweg liegt, ist sich die Nachbarschaft der historischen und kulturellen Bedeutung der Stätte nicht bewusst. Durch das Vordringen der Vegetation, die wirtschaftliche Entwicklung, den zunehmenden Tourismus und andere potenzielle menschliche Einflüsse steigt jedoch das Risiko der Zerstörung der Stätte, so dass Schutzmaßnahmen und weitere archäologische Untersuchungen dringend erforderlich sind und die Beteiligung der lokalen und nationalen Regierung sowie die Ausbildung lokaler Fachleute erforderlich sind. Unser Ziel ist es daher, eng mit den lokalen Behörden zusammenzuarbeiten und die lokalen Gemeinschaften weiterhin in die Bemühungen um den Erhalt der Stätte einzubeziehen und zu stärken.
Trotz bürokratischer Hindernisse, der Befürchtung einiger Nachbarn, dass es an diesem Ort spukte, und der üblichen Geschichten, dass wir graben würden, um den Goldtopf zu finden, den eine namenlose Großmutter hinterlassen hat, erzielt das Projekt langsam Ergebnisse auf lokaler Ebene. Bei einem Besuch im Krankenhaus, um ein aus dem engenho ausgegrabenes Keramikgefäß zu röntgen, kam die Projektleiterin mit einem Bäckereibesitzer aus der Stadt Trindade ins Gespräch, die in demselben Bezirk liegt, in dem auch Praia Melão liegt. Herr Fonseca war fasziniert von unserer Arbeit und schockiert darüber, dass ein so imposantes und wichtiges Gebäude bei den Menschen im Bezirk nicht bekannt war und in der Schule nicht erwähnt wurde. Ihm und Herrn Apssy, dem Projektassistenten vor Ort, zufolge werden der Zuckerkomplex und die Sklaverei in der Schule kaum erwähnt, und selbst die örtlichen Fremdenführer wissen nichts darüber. Herr Fonseca war sehr daran interessiert, mehr über den Ort zu erfahren, und schlug vor, dass seine Tochter an der nächsten Grabungssaison teilnehmen sollte, um mehr über die frühere Geschichte von São Tomé zu erfahren. Als Leute aus weiter entfernten Dörfern versuchten, Steine von den Wänden des Gebäudes zu stehlen, um sie als Baumaterial zu verkaufen, trommelte Herr Edsiley, unser Verbindungsmann zur Gemeinde, schnell einige Nachbarn zusammen, um die Diebe zu verjagen und die Zerstörung der Stätte zu verhindern. Ihm zufolge ist das Gebäude heute mehr als nur ein Ort der Geister. Die Nachbarn sind stolz darauf, auch wenn die meisten Familien erst einzogen, als der engenho schon fast 100 Jahre lang eine Ruine war.
Weiterführende Literatur
- Cruz, M. D., Thomas, L., & Ceita, M. N., 2023. Bitter legacy: archaeology of early sugar plantation and slavery in São Tomé. Antiquity, 97(395), e30:1-8.
DOI: 10.15184/aqy.2023.113 - Cruz, M. D. & Thomas, L., 2024. Unearthing the origins of plantation slavery on São Tomé. Sapiens-Anthropology Magazine. 19 March.
www.sapiens.org - Freelon, Kiratiana, 2024.White gold, black bodies: How a tiny African nation shaped the world. The Guardian, 15 June.
www.theguardian.com - Killgrove, Kristina, 2023. Plantation slavery was invented on this tiny African island, according to archaeologists. Live Science. 17 August.
www.livescience.com - Lopes, Inês Serra, 2023. Viagem ao passado no engenho de Praia Melão. Novo – Semanário. 19 August: 26-27.
- Pflughoef, Aspen, 2023. Island estate reveals forgotten ‘model’ for sugar plantation slavery — and resistance. Miami Herald. 16 August.
www.miamiherald.com - Symmonds, Matthew, 2023. A bitter harvest: Slave labor and sugar on São Tomé. Current World Archaeology, September.
www.the-past.com - Ceita, Odjay, 2024. Investigação arqeuológica quer colocar engenho de açúcar de Praia Melão na rota do turismo cultural. Entrevista, RSTP, 6 March, 2024.
rstp.st
Finanzierung
Das HBI hat zur Finanzierung der Feldsaison 2023 in Praia Melão beigetragen